Ich dachte immer, ich bin offen, reflektiert und handle meistens vollkommen bewusst. Ich dachte, ich bin einer von diesen ultraoffenen Menschen, die alles und alle so nehmen, wie sie sind. Denkste.
Schon immer bin ich jemand, der 100 verschiedene Interessen hat, viele Sachen liest, gerne lernt. Gleichzeitig bin ich aber kein Detailmensch. Es gibt einfach so viele spannende Dinge, bei denen es sich lohnt, “in die Breite zu gehen” und daraus ein eigenes Detailbild zu formen. Diese Wesensart resultierte bei mir aber in einer immer schnelleren Geschwindigkeit und auch dem Drang, Dinge schnell zu machen und mich auf Sachen “zu stürzen” und sie abzuarbeiten. Ich merkte gar nicht, wie die Geschwindigkeit, mit der ich unterwegs war, mein Handeln enorm beeinflusste. Im Gegenteil – ich genoss sehr das kreative Gewusel, das Auf-den-Weg-aber-nicht-zuende-bringen, das impulsive Handeln, schnelle Entscheidungen und die “Angst vorm Verpassen” – und viele echt coole Sachen, auf die ich stolz bin, sind genau daraus entstanden.
Irgendwann fiel mir aber auf, dass ich wirklich in meiner ganz eigenen Blase unterwegs bin und etwas fehlt. Dass ich die Offenheit und Zugänglichkeit, die ich eigentlich in mir vermutet habe, gar nicht so sehr lebe, wie ich dachte. Ich bin, wie vermutlich alle Menschen: in allem, was ich tue, prägen mich die Kategorien und Schubladen in meinem Kopf. Unendlich viele Trigger sorgen dafür, dass ich reagiere. Dass ich werte, dass ich voreingenommen entscheide. Das passiert so unbewusst und automatisch, dass ich es nicht merke. Wie bei jedem Menschen eben.
Somit habe ich meine eigene Agenda und nehme meine Welt als viel zu wahr an. Meine Wahr-Nehmung ist also gar nicht so wahr, wie ich denke. Denn was ist das schon. Wahr. Das war eine ganz schön revolutionäre Erkenntnis für mich.
Da hätte ich gerne anders gehandelt
Es passierte nun Folgendes: Immer häufiger kam ich nach Entscheidungen an den Punkt, dass ich dachte: „Man, es kam zwar was Gutes dabei raus, aber da hätte ich mit meinem jetzigen Wissen gerne anders gehandelt und Menschen anders begleitet und eingebunden.“ Privat und im Job: In Gesprächen, Meetings, bei Entscheidungen, kreativen Prozessen. Oft schien ich mich fast zu sehr vom Impuls leiten zu lassen, weil ich es schnell machen wollte. Ich merkte: Ich muss Geschwindigkeit rausnehmen und bewusster handeln. Weg von reagieren hin zu nachdenken und agieren.
Wie das aber anstellen? Ich glaube, dass eine Emotion einem Gedanken folgt (und ja, oft auch umgekehrt). Der muss nicht bewusst sein, im Sinne von “aha, jetzt bin ich fröhlich”. Dennoch geht einer Emotion eine Tätigkeit im Gehirn voraus. Und Emotionen wiederum beeinflussen Gedanken. Mein erstes ToDo ist also: Emotionen erkennen und bewusst machen. Bei scheinbar vorschnellen Wertungen zuerst fragen: “ist das wirklich so? Was steckt dahinter?” Und daraus dann eine hoffentlich kluge Entscheidung ableiten. Klingt simpel. Schnell erledigt. Dachte ich.
Der Plan
Also ran an den Speck, das ist der Plan, den ich mir gemacht habe:
- Die Wahrnehmung schärfen und alle Sinne trainieren
- Situationen erkennen und reflektieren
- Die eigene Handlung im Moment verändern und zu bewusstem Handeln kommen
Ich habe mich dem Schärfen meiner Wahrnehmung über Gewohnheiten angenähert. Kleine Dinge im Alltag, die ich bewusst tue, um meine Wahrnehmung zu schärfen. Im Folgenden findet ihr neun kleine Tipps, Gewohnheiten und Übungen, die mir geholfen haben und helfen, zu bewussterem Handeln zu kommen
1. Starte den Tag schon mit allen Sinnen
Mir ist der Start in den Tag wichtig und ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, den Tag mit allen Sinnen zu starten. Dabei versuche ich, bewusst für alle 5 Sinne zu sorgen. Darüber habe ich den Artikel “5 Tipps um den Tag mit allen Sinnen zu starten” geschrieben.
2. Plane Zeit zur Selbstreflexion ein
Ich möchte mich selbst mehr analysieren und mir bewusst Zeit nehmen, die Erlebnisse des Tages zu beleuchten und zu schauen, wie mein Verhalten dort war. Mir hilft dabei, für abends einen Timer zu setzen, der mich daran erinnert, 5 Minuten zu reflektieren. Ich gehe bewusst den Tag durch: von morgens bis abends. Wichtig ist die Haltung: ich suche nicht nach Fehlern sondern schaue nach Möglichkeiten zum Lernen. Dabei fallen mir ganz automatisch kritische oder bemerkenswerte Situationen des Tages ein. Ich erinnere mich bewusst an diese und versuche, mein Verhalten in der Situation zu analysieren. Dabei schaue ich, wie ich mich selbst in der Situation gefühlt habe, wie es auf andere gewirkt haben mag und ob ich hier wieder in ein vielleicht komisches Verhaltensmuster geplumpst bin, das mir selbst eigentlich nicht gefällt. Ich schaue, ob es auch andere Möglichkeiten gab, die mir im Nachhinein nun als viel sinnvoller erscheinen. Mittlerweile brauche ich den Timer nicht mehr zwangsläufig und reflektiere automatisch nach Gesprächen oder Terminen. Oder nehme mir Zeit auf dem Weg nach Hause. Was sich auch eingestellt hat: Ich erkenne Handlungsoptionen in den Situationen besser. Oder zumindest fallen mir die Stellen, die Reflexionsbedarf haben, häufig direkt auf. Wie ein kleines Warnsignal: “Achtung, hier handelst du gerade sehr automatisch!” In diesen Situationen dann ein bewusstes Handeln hinzubekommen, gelingt mir immer öfter.
3. Lass Balast los
Ich habe festgestellt, dass meine irre hohe Geschwindigkeit viel mit all den Dingen zu tun hat, die ich in meinem Kopf herumtrage: was kommt als nächstes, wo muss ich jetzt hin, wie löse ich das nächste Problem, wie moderiere ich den anstehenden Konflikt, wie mache ich es richtig. Ich war im Kopf immer viel mit den nächsten anstehenden Dingen beschäftigt.
In einer Coachingsession kam ich auf das Thema Journaling und nahm diese Methode als Versuch, dem rastlosen Geist hier ein wenig Einhalt zu gebieten. Immer, wenn ich morgens das Gefühl habe, 100 Dinge jonglieren zu müssen, nehme ich mir 5 Minuten um einfach aufzuschreiben, was mir alles durch den Kopf geht. Das befreit ungemein, gibt mir Struktur und hilft, mich voll auf das im Moment anstehende ToDo zu fokussieren. Ehrlicherweise habe ich mir noch nie durchgelesen, was dieser “Brain-Dump” so ergeben hat. Vielleicht sollte ich das auch lieber nicht.
Ich tue das auch nicht jeden Tag – schlicht aus Zeitgründen. Was ich aber immer mache, wenn mir ein Gedanke durch den Kopf schießt, ist, ihn in meinem Trello-Board festzuhalten. Und zwar alles: ein ToDo landet in der Spalte ToDo, ein Gedanke oder Impuls zu Themen, die mich beschäftigen, in meiner Mindset-Spalte. Letztere scanne ich regelmäßig und beschäftige mich mit meinen Gedanken.
4. Trainiere dein Bewusstsein
Ich habe bereits vor Jahren das Buch “Die Kunst des klaren Denkens” gelesen. Dieses fand ich faszinierend und augenöffnend zu gleich: Welche Streiche uns das Gehirn spielt und in welche Denkfallen wir geraten können!
Diese habe ich mir auf Karten gedruckt. Basierend auf Artikeln, die ich im Internet gelesen habe, steht dort der Name eines Denkfehlers und eine kurze Beschreibung darauf. Der Stapel der Karten liegt auf meinem Schreibtisch im Büro und jeden Morgen lese ich eine der Karten und überlege, an welcher Stelle mir dieser Denkfehler vielleicht schon einmal selbst passiert ist.
Dies schärft mein Bewusstsein: ich erkenne in Diskussionen besser, wenn vielleicht anderen die Denkfehler unterlaufen und finde genau so in meinem Verhalten Beispiele für die Denkfehler vor.
Hier gibt es ein spannendes Plakat zum Download, das sich mit diesen Denkfehlern beschäftigt.
5. Trainiere das Zuhören
Während du diesen Text liest, schweifen deine Gedanken ab. Du stellst das, was du hier liest, sofort in Bezug zu Dingen in deinem Leben. Du ergänzt das, was du liest, in Gedanken mit deinen Eindrücken und Erfahrungen zu einem Gesamtbild. Genau das passiert oft, wenn wir anderen Menschen zuhören. Wir sind im Kopf bei unserer eigenen Einschätzung, unseren eigenen Gedanken und unser eigenen Wertung. Das ist die erste Ebene des Zuhörens.
Zu lernen, diese Ebene zu verlassen und auf die fokussierte Ebene zwei zu kommen, ist unerlässlich, wenn man wirklich gut zuhören und verstehen möchte: sei fokussiert und vollkommen bei deinem Gesprächspartner. Die Aufmerksamkeit gehört nicht dir sondern einem Gegenüber. Das zu lernen ist ein wichtiger Schritt.
Auf Ebene drei nimmst du dann Dinge drumherum war und erweiterst das Zuhören auf “Dinge im Raum” – welche Stimmung ist gerade da, was nimmst du emotional wahr? Diese erfordert Übung und die Ebene hilft enorm bei der Kommunikation. Dazu zählen viele Dinge wie die Atmung deines Gegenübers, welche Gestik und Mimik ist da, welche Energie strahlt er oder sie aus.
Toll beschrieben ist dies in Büchern über Co-Active Coaching.
6. Gehe langsam
Ich neige dazu, beim Gehen immer schneller zu werden. Wenn ich alleine laufe, habe ich eine enorm hohe Geschwindigkeit. Ich will ja gerne von A nach B kommen und ein Ziel erreichen. Dies passiert mir aber auch bei Meetings, die ich gerne im Park bei einem Spaziergang habe. Meist sind dies Gespräche zu zweit. Mir ist aufgefallen, dass ich mit meinen jeweiligen Gesprächspartnern immer schneller wurde über die Zeit. Scheinbar gab ich das Temp vor. Hier habe ich mir zum Ziel genommen, langsam zu gehen. Bewusst innezuhalten, es zu benennen und zu sagen: “Lass mal die Geschwindigkeit reduzieren”. Das gibt den Gesprächen immer eine neue Dynamik und hilft mir, aus meiner Geschwindigkeit in ein anregenderes Maß zu kommen. Manchmal frage ich meine Gesprächspartner zusätzlich auch einfach, ob sie Lust haben, spontan die Richtung um 180° zu ändern und dann weiterzugehen.
Dieses bewusste Handeln hilft – im wahrsten Sinne des Wortes -Geschwindigkeit herauszunehmen und Denken zu ermöglichen.
7. Atme durch: Sich und anderen eine Sekunde geben
Es gibt Meetings, in denen sehr angeregt diskutiert wird. Ich liebe diese Termine – es entsteht eine Energie, viele neue Gedanken werden gesponnen, aber man gibt sich oft nicht gegenseitig die Gelegenheit, den Gedanken des anderen zu verinnerlichen. Zuzuhören. Nachzufragen. Oft ist es einfach nur wichtig, selbst einen bestimmten Punkt zu machen und eine Idee anzubringen.
Neben dem Trainieren des Zuhörens habe ich mir die 1-Sekunde-Regel gegeben. Jeden Wortbeitrag, der kommt, gebe ich eine Sekunde, damit er bei mir landen kann. Alleine diese Sekunde sorgt dafür, dass ich mehr verstehe. Dass ich mehr Erkenntnisse habe und die Landkarte meines Gegenübers besser verstehe.
8. Schwarz-Weiß-Denken ablegen
Ich denke gerne in Skalen. Bei Diskussionen mit vielen unterschiedlichen Meinungen hilft es mir, in meinem Kopf eine Skala aufzumalen und zu schauen, wo sich welcher Standpunkt befindet. Ich gehe dann bewusst auf die Suche nach einer Möglichkeit zwischen den beiden extremen Polen. Dies hilft mir, absolute Wertungen abzulegen und in einem Fächer von Möglichkeiten zu denken. Ich habe dazu einen weiteren Artikel verfasst.
9. Meditiere
Das Thema Meditation hat auf mich schon seit Jahren einen großen Reiz ausgeübt. Ich habe mich der Sache aber nie aktiv angenommen. Vor etwa einem Jahr versuchte ich, abends vor dem Schlafengehen aktiv an nichts zu denken. Meinen Geist zu entspannen und Gedanken abzuschütteln, die mich vom Einschlafen abhielten. Das waren unbewusst meine ersten Versuche, mich aktiv mit Meditation auseinanderzusetzen.
Daraus folgte Monate später, dass ich mich über Podcasts mehr über das Thema Meditation informierte. Ich begann, über die App Headspace in das Thema einzutauchen. Anfangs war es anstrengend, die neue Gewohnheit in meinen Tagesablauf einzubauen. Heute fehlt es mir, wenn ich mir nicht die 20 Minuten nehme, um mich bewusst mit mir auseinanderzusetzen. Diese Zeit hilft mir enorm, meine innere Ruhe zu entdecken und hat Auswirkungen auf mein gesamtes Verhalten und somit auch meine Mitmenschen. Eine Gewohnheit, die ich heute echt nicht mehr missen möchte.
Mit der aktiven Beschäftigung mit dem Thema Meditation kam auch die Erkenntnis, dass ich mir solche Auszeiten eigentlich schon mein ganzes Leben lang nehme, nur eben anders und weniger bewusst. Auch als Kind habe ich mich schon stundenlang an meinem Klavier in Musik versenken können und dort “Me-Time” genossen. Meditation ersetzt dies nicht, liefert aber einen viel stärkeren und bewussten Zugang zu mir selbst.
Und heute?
Mit der Beschäftigung mit mir selbst und all diesen Punkten, die ich als Gewohnheit in meinen Alltag eingebaut habe, kamen viele weitere neue Impulse. Die Beschäftigung mit Systemtheorie oder auch meine Ausbildung zum Coach haben mir sehr geholfen, diese Reise zu beschleunigen und meine Handeln bewusster zu gestalten. Die Offenheit und das Interesse an diesen Themen resultierte vermutlich auch schon aus einer ersten Veränderung durch die vielen oben beschriebenen Punkte.
Je länger ich über die Effekte nachdenke, welche dieses bewusste “Gewöhnen” hatte, desto mehr fallen mir ein. Auch, wenn sie bei weitem nicht sofort sichtbar wurden und auch für sich genommen nicht groß erscheinen. Sie haben aber dennoch großen Einfluss.
Die wichtigste Änderung: Ich höre immer besser zu. Es fällt mir deutlich leichter, anderen Menschen zuzuhören und mich in ihre Wahrnehmung einzufühlen. Wo ich früher noch sehr stark den Blick auf meine Meinung hatte und der Fokus auf “jetzt macht das doch endlich so” war, gelingt es mir immer besser, von mir und meiner Ansicht einen Schritt zurückzutreten und ohne Eitelkeit auch andere Impulse zuzulassen. Was für ein Gewinn.
Mein reflexhaftes Handeln hat deutlich abgenommen. Ich nehme aktiv Geschwindigkeit heraus und erkenne Situationen, in denen ich früher impulsiv anders gehandelt hätte, viel aktiver und kann “vernünftig gegensteuern”. Das macht deutlich zufriedener und gibt mir ein Gefühl von Nachhaltigkeit. Auch glaube ich, dass es sich positiv auf meine Umwelt auswirkt. Ich bin eher Sparringspartner statt schneller Entscheider.
All dies mündete in einem beim Lesen fast zu großem Ziel und Credo. Ich möchte inspirieren. Mir ist es viel wichtiger geworden, Einfluß durch Impulse zu nehmen statt durch entscheiden und “ich mach das mal eben”. Ich gebe mehr Raum: mir selbst und anderen. Alleine dadurch öffnet sich für mich ein ganze Schatztruhe an Möglichkeiten, mich weiterzuentwickeln und zu lernen. Meine Neugier an Dingen ist nur noch größer geworden und ich habe das Gefühl, viel nachhaltiger zu lernen und mich mit den Dingen zu beschäftigen, die einen wirklichen Einfluss auf mich haben und mich ehrlich verändern. Eine tolle Erfahrung.
Großartiger Artikel über die Reise zu einem größeren und klareren Ich.
Ich danke Dir fürs Teilen