Ganz ehrlich: Meine persönliche Hoffnung der Corona-Krise ist, dass Deutschland digital nun auch im 21. Jahrhundert ankommt. Wir, als Teil der Digitalbranche, sitzen ein bisschen verwundert auf unserem Elfenbeinturm.
Vor 20 Jahren war ich in internationalen Projekten mit Menschen verteilt auf der ganzen Welt, in täglichen Calls, Chats und ersten Kollaborationstools wie Lotus Notes organisiert. Vor 10 Jahren hatte ich einen kompletten Remote-Arbeitsplatz und habe in Deutschland für ein Unternehmen in Irland gearbeitet. Wir hatten Softwareentwickler in Spanien und Schweden, haben über Google Docs verteilt gearbeitet, dauerhafte Skype-Sessions und es war völlig normal, mit Menschen in unterschiedlichen Ländern remote zusammenzuarbeiten und uns nur selten persönlich zu begegnen. Für mich ist dieser Zustand normal, mein ganzes Berufsleben lang wurde ich mit verteiltem Arbeiten sozialisiert.
Wenn ich sehe, wie heute viele in der Krise straucheln, weil sie nicht so digitalisiert und technisiert sind, frustriert mich das sehr. Andererseits habe ich auch eine echte Hoffnung, dass diese Krise ein Weckruf für die Digitalisierung in Deutschland ist:
Drei Beispiele dafür.
Hier, in der Bremer Neustadt, haben alle Restaurants geschlossen, wie überall. Nahezu jeder hat einen Zettel im Fenster mit dem Hinweis “Außer Haus Verkauf.” Wir unterstützen die lokalen Restaurants mit Bestellungen seit Beginn der Krise, aber es ist denkbar unbequem: Keine Kartenzahlung, online bestellen ist schwierig, meist geht es nur telefonisch, die Karten online sind nicht aktuell, alles ist nicht kundenzentriert. Kein Wunder, war doch bisher alles auf ein Geschäft vor Ort ausgerichtet. Wenn ich gleichzeitig über die Ghost-Kitchen in den USA lese und Restaurantgeschäft jenseits einer schnellen Pizzalieferung, glaube ich, dass wir in Deutschland viel Innovationspotenzial haben. Meine Hoffnung ist, dass durch den “gezwungenen Need”, den wir nun für solche Services haben, neue Geschäftsmodelle entstehen, die für Gastronomen und Kunden spannende Services hervorbringen.
Letzte Woche sah ich einen Post von einem Bekannten, der einen Screenshot von einer E-Mail seiner Bank teilte. Er ist Installateur, muss Hilfe vom Staat beantragen und wird von seiner Bank mit 5 auszufüllenden PDFs und einer ellenlangen Liste von Dokumentenanforderungen konfrontiert, die er liefern muss, um überhaupt eine Chance auf einen Cent Hilfe zu bekommen. Das ist alles andere als ein effizienter Prozess. Warum gehen diese Dinge nicht digital? Auch in Deutschland mit Gewaltenteilung und Föderalismus? Warum kann ich Dokumente nicht gezielt Institutionen und Behörden bspw. über eine zentrale Plattform freigeben? Wir haben hier viel verschlafen, Innovation verschleppt und eine digitale Sozialisierung eher gehemmt als gefördert. An diesem Beispiel sieht man das deutlich. Ich habe große Hoffnung, dass es hier durch die Krise Lernerfolge gibt und sich Dinge verbessern.
Das Schulwesen in Bremen ist eigentlich digital ganz gut ausgestattet mit einer Plattform, die verteiltes Lernen ermöglicht. Oder besser: ermöglichen soll. Nur: Die Medienkompetenz der Lehrer ist scheinbar nicht ausreichend da. Sie sind persönlich gar nicht in der Lage, die Plattform zu bedienen, noch haben sie es im Alltag je gemusst. Nichts ist auf verteiltes digitales Lernen ausgerichtet, sodass sich digitaler Unterricht in Bremen jetzt weitgehend auf Materialien beschränkt, die online zum Download zur Verfügung gestellt werden. Kein Unterricht, keine synchrone Kommunikation. Warum war es nicht auch hier schon üblich, einmal pro Woche eine Stunde “remote” zu unterrichten, um sich der digitalen Welt anzunähern? Wenn ich die Diskussionen aus dieser “konservativen Branche” mitbekomme, glaube ich, dass sich auch hier viel ändern wird. Getrieben durch die Schmerzen, die wir jetzt haben, werden auch hier Vorbehalte verschwinden und neue Konzepte digitalen Lernens entstehen.
Ich glaube, wir werden einen großen digitalen Schritt nach vorne machen. Wenn denn “alles rum ist” hoffe ich sehr, dass das ein Weckruf für die Digitalisierung in Deutschland war und nun auch in der Breite digitale Modelle der Kollaboration nicht mehr nur ein Bestandteil der Technologie-Branchen sind. Denn was es alles aufzuholen gibt, das legt Corona gerade unverblümt offen.